Ihr Spezialist:

Prof. Marius Keel

Beckenringfraktur

Knöcherne und/oder Bänderverletzungen des Beckens mit Unterbrechung der vorderen und/oder hinteren Beckenringstruktur, ein- oder beidseitig, entstehen durch grobe Gewalt bei Verkehrs-, Arbeitsunfällen oder Sturz aus grosser Höhe (Hochenergieverletzungen).

Im Alter treten Beckenfrakturen infolge Osteoporose nach Sturz aus Eigenhöhe oder spontan durch „Mikrotraumata“ auf (Niedrigenergieverletzungen, sog. „Insuffizienzfrakturen“, „fragility fractures of the pelvis“ (FFP)), wobei in >65% sowohl der vordere wie auch der hintere (analog beim Brechen eines Bretzels), in ca. 20% nur der vordere und in ca. 15% nur der hintere Beckenring betroffen sind (PDF1). Typischerweise kann sich im Alter aus einer einfachen Fraktur aufgrund der fehlenden Heilung durch die dynamische Instabilität eine komplexe entstehen („Crescendo-Instabilität“).

Nach dem Mechanismus wird zwischen seitlichen (Einwärtsdrehen (Innenrotation) der Beckenhälften; „lateral compression“ (LC)), vorderen (frontalen; Auseinanderweichen (Aussenrotation) der Beckenhälften; „anteroposterior compression“ (APC)) und axialen Kräften (vertikale Verschiebung der Beckenhälften; „vertical shear“ (VS)) unterschieden.

Bei den lateralen Kompressionsverletzungen können am hinteren Beckenring das Kreuzbein eingestaucht sein (Sakrumimpressionsfraktur), die Beckenschaufel brechen (Iliumfraktur) oder am gegenseitigen Hemipelvis (Beckenhälfte) Bänder zerreissen mit Verletzungen des Iliosakrakgelenkes, während am vorderen Beckenring Schambeinäste quer brechen.

Bei den anteroposterioren Kompressionsfrakturen kommt es typischerweise zur Zerreissung der Symphyse oder auch zu vertikalen Schambeinastfrakturen, während am hinteren Beckenring die Iliosakralgelenke aufreissen oder zentrale Sakrumfrakturen auftreten. Diese auch „open book“-Verletzungen genannt (Auseinanderklappen wie ein offenes Buch) sind typisch bei Motorrad- oder Reitunfällen und haben ein hohes Risiko für starke Blutungen.

Die vertikalen Scherverletzungen mit kompletter Zerreissung der Symphyse oder vertikal stark verschobenen Schambeinästen und kompletter Ruptur des Iliosakralgelenkes mit oder ohne Frakturausläufer in die Beckenschaufel oder stark dislozierten, mehrfragmentären Kreuzbeinfrakturen sind vergesellschaft mit starken Blutungen, Nervenverletzungen und Zusatzverletzungen im Bauch. Die komplexeste Verletzung am hinteren Beckenring ist die beidseitigen Sakrumfrakturen mit zusätzlich querer Fraktur, die sog. „spinopelvine Dissoziation“ (Ausbruchfraktur der Wirbelsäule aus dem Becken (U- oder H-förmig)) und tritt nicht nur nach Hochenergieverletzungen (Sturz aus grosser Höhe, deshalb auch „suicide jumper’s fracture“ genannt) auf, sondern können auch das Endstadium bei Insuffizienzfrakturen im Alter sein.

 

Klinik & Diagnostik

Nach Hochenergieverletzungen werden Fehlstellungen des Beckens, lokale Blutergüsse (Hämatome), offene oder geschlossene Weichteilverletzungen, neurologische Ausfälle und speziell bei „open book“- oder „vertical shear“-Verletzungen ein Blutungsschock festgestellt. Häufig treten auch Begleitverletzungen wie Harnblasen-, Harnröhren- oder Darmverletzungen oder auch Leber- oder Milzverletzungen im Rahmen von Mehrfachverletzungen (Polytrauma) auf, weshalb eine Ganzkörper-Computertomografie (CT) notfallmässig durchgeführt wird, falls es die Kreislaufsitutation des Patienten zulässt. Ansonsten muss der Patient notfallmässig operativ versorgt werden („life saving surgery“).

Nach Niedrigenergieunfällen wird die Verletzung nicht selten vorerst verpasst und die Patienten klagen über tieflumbale Rückenschmerzen bei erhaltener Gehfähigkeit und eine Immobilität tritt erst später ein. In der Beckenübersichtsröntgenaufnahme können nicht selten bereits ältere Frakturen beobachtet werden. Zur genauen Beschreibung der Frakturen und Festlegung der Therapie ist eine Computertomografie notwendig. Falls im Röntgenbild oder im CT vor allem im hinteren Beckenring keine Fraktur sichtbar ist, sollten ergänzend Magnetresonanztomografien des Beckens und der Lendenwirbelsäule erfolgen, auch zur Beurteilung von zustätzlichen Degenerationen (Abnützungen) der Lendenwirbelsäule mit Einengungen der lumbalen Nervenwurzeln. Bei längerdauernden Schmerzen ist auch die kombinierte Computertomografie mit einer Knochenszinitgrafie zur Beurteilung des Knochenstoffwechsels eine sinnvolle Untersuchung (sog. SPECT-CT („single photon emission computed tomography“)).

 

Behandlung

Konservativ

Nicht-verschobene Frakturen am hinteren und/oder vorderen Beckenring werden primär konservativ anbehandelt mit 15kg Teilbelastung auf der Seite der Fraktur des hinteren Beckenrings für 6 Wochen. Es sollten im Verlauf Röntgenkontrollen stattfinden.

Operation

Bei Patienten mit komplexen Beckenverletzungen und Kreislaufinstabilität stehen der Beckengurt als nicht-invasives Notfallverfahren und der äussere Fixateur am voderen Beckenring oder die sog. Beckenzwinge am hinteren Beckenring zur Verfügung. Allenfalls erfolgen bei Patienten „in extremis“ (nicht-beherrschbare Kreislaufinstabilität) zur weiteren Blutstillung eine Tüchertamponade chirurgisch nach mechanischer Beckenstabilisierung oder eine interventionelle Embolisation von Beckenarterien durch einen Radiologen.

Für die definitive Fixation des hinteren Beckenrings mit wenig dislozierten Iliosakralgelenken oder Sakrumfrakturen ist die sog. iliosakrale Verschraubung mit (bei Osteoporosefrakturen) oder ohne Knochenzementaugmentation als minimalinvasive, perkutane Technik der Goldstandard. Beckenringfrakturen mit deutlichen Dislokationen werden offen eingerichtet und mittels Schrauben- und/oder Plattenosteosynthesen am vorderen und/oder hinteren Beckenring versorgt oder mit der iliosakralen Verschraubung kombiniert. Die beidseitigen Kreuzbeinfrakturen mit zusätzlicher querer Sakrumfraktur (spinopelvine Dissoziation) wird mittels lumbopelviner Stabilisation offen oder perkutan versorgt, wobei die Stabilität der Schrauben und Fixation mit Zement oder einer zusätzlichen iliosakralen Verschraubung (sog. „trianguläre Abstützung“) erhöht wird. 2011 publizierte Prof. Keel als erster Chirurg weltweit eine minimalinvasive Technik der lumbopelvinen Fixation (siehe Abb. 5). Bei einseitigen Sakrumtrümmerfrakturen wird diese Technik auch einseitig angewendet. Nach lumbopelvinen Fixationen kann eine Vollbelastung angestrebt werden, bei lokalen Osteosynthesen mit Platten und/oder Schrauben muss während 6 Wochen eine Teilbelastung mit 15kg auf der versorgten Seite befolgt werden.

Komplikationen

Bei Beckenverletzungen mit Kreislaufinstabilität liegt die Sterblichkeit bei 10-20%. Systemische Komplikationen sind eine Sepsis, ein Multiorganversagen, Thrombosen oder Lungenembolien. Lokale Komplikationen sind Wundinfektionen bei vor allem offenen Frakturen oder bei geschlossenen schweren Weichteilverletzungen (sog. „Morell-Lavallée-Läsion“), sekundäre Dislokationen der Fixationen, Pseudarthrosen (fehlende Knochenheilung) mit oder ohne Fehlstellungen oder Bauchwandhernien bei Symphysenrupturen. Bei zentralen und transforaminalen Sakrumfrakturen können unmittelbar nach dem Unfall oder auch postoperativ durch Einklemmen der L5 oder S1-Wurzeln in der Fraktur oder durch fehlplatzierte Schrauben (vor allem Iliosakralschraube) neurologische Schwächen oder Ausfälle der L5 oder S1-Wurzeln (Fussheber- oder Fusssenkerlähmungen) in ca. 10% auftreten. Im Rahmen der offenen operativen Versorgung von Sakrumfrakturen können über einen dorsalen Zugang die Fragmente entfernt und die Wurzeln befreit werden. Bisher musste bei postoperativen Lähmungen der Spontanverlauf abgewartet werden. Am 15.3.2016 wurde durch Prof. Keel weltweit erstmalig über den Pararectus-Zugang der Plexus lumbalis durch Entfernung von Knochenfragmenten entlastet. Die Fussheberparese erholte sich wieder bei einem jungen Patienten nach verpasster Sakrumfraktur und sekundärer Verschiebung. Die Technik und die ersten Fälle wurden 2020 publiziert (siehe Abb. 8).

Seltener sind Schwächen oder Lähmungen der Adduktorenmuskulatur am Oberschenkel durch Verletzungen des Nervus obturatorius am vorderen Beckenring durch Frakturfragmente oder durch Manipulationen während der Operation. In ca. 5% der Beckenverletzungen treten Inkontinenzen der Blase oder des Enddarmes oder auch Potenzstörungen auf.


 
 

Abb. 1. Laterale Kompressionsfraktur mit mehrfragmentärer Beckenschaufelfraktur und beidseitigen Kreuzbeinimpressionsfrakturen sowie dislozierten oberen und unteren Schambeinastfrakuren rechts bei 28-jähriger Patientin nach Verkehrsunfall als Fussgängerin (3D-Computertomografie (a)). Intraoperative Sicht auf die rekonstruierte Beckenschaufel (b). Postoperative Beckenübersicht (c) nach beiseitigen Iliosakralverschraubungen, Schrauben- und Plattenosteosynthesen der Beckenschaufel und des vorderen Beckenrings rechts und 1 Jahr postoperativ (d).
 


 
 

Abb. 2. Symphysenruptur mit Blasenläsion bei 58-jährigem Patienten nach Reitunfall (Beckenübersicht (a)). Initial Anlage eines Beckengürtels und Blutung aus der Harnröhre (b). Intraoperative Sicht auf die Symphysenplatte und die genähte Blase (c). Postoperatives Röntgenbild mit geschlossener Symphyse (d). Röntgenbild 1,5 Jahre postoperativ mit leichter Weitung der Symphyse mit Lockerung der Schrauben bei beschwerdefreiem Patienten (e).
 


 
 

Abb. 3. Verhakte Symphysenruptur mit Harnröhrenabriss und leicht erweitertem Iliosakralgelenk (ISG) rechts und disloziertem ISG links bei 48-jährigem Patienten nach Arbeitsunfall beim Baumfällen (3D-Computertomografie (a) und Röntgenbild nach Kontrastmittelfüllung über die Harnröhre mit Kontrastmittelaustritt als Zeichen des Hanröhrenabrisses (b)). Intraoperative Sicht auf die Verplattung des ISG links (c). Beckenübersicht nach Plattenosteosynthesen des ISG links und der Symphyse sowie Verschraubung des ISG rechts und sog. Durchzugsoperation (Schienung der Harnröhre) (d). Beckenübersicht 1 Jahr postoperativ bei beschwerdefreiem Patienten (e).
 


 
 

Abb. 4. Vertikal instabile Verletzung mit mehrfragmentärer Kreuzbeinfraktur und Schambeinastfrakturen rechts mit Blutungsschock bei 72-jähriger Patientin nach Sturz aus grosser Höhe (3D-Computertomografie (a) und Röntgenbild (b) nach notfallmässiger Anlage einer Beckenzwinge (c)). Postoperative Beckenübersicht nach definitiver Fixation des Beckens mit Plattenosteosynthese des vorderen Beckenrings rechts und iliosakraler Verschraubung der Sakrumfraktur rechts (d). Röntgenbild 2 Jahre nach Unfall bei beschwerdefreier Patientin (e).
 


 
 

Abb. 5. Vertikal instabile Verletzung mit mehrfragmentärer Kreuzbeinfraktur links und beidseitigen Schambeinastfrakturen bei 47-jährigem Patienten nach Sturz aus grosser Höhe beim Fensterputzen (3D-Computertomografie (CT) (a) nach Anlage eines Beckengürtels und Nachweis der instabilen, dislozierten, mehrfragmentären Sakrumfraktur im axialen CT-Schnitt (b)). Postoperative Beckenübersicht nach Plattenosteosynthese des vorderen Beckenrings beidseits und der triangulären Abstützung des hinteren Beckenrings einseitig mit lumbopelviner Fixation und iliosakraler Verschraubung (c). Die Technik und die erste Fallserie der minimalinvasiven lumbopelvinen Fixation wurden durch Prof. Keel weltweit erstmalig angewendet und 2011 in der amerikanischen Unfallzeitschrift (Journal of Trauma) veröffentlicht (d). Axialer CT-Schnitt mit Nachweis der knöchernen Heilung des Sakrums vor Entfernung der einseitigen Fixation des hinteren Beckenrings (e). Röntgenbild 2,5 Jahre nach Unfall (f).
 


 
 

Abb. 6. Laterale Kompressionsfraktur (unverschobene Schambeinastfraktur links) nach Sturz aus Eigenhöhe bei 77-jähriger Patientin mit Osteoporose (Beckenübersicht (a)). Nachweis einer neuen unverschobenen Schambeinastfraktur rechts und von beidseitigen Sakruminsuffizienzfrakturen („Crescendo“-Instabilität) bei zunehmend immobilisierenden Schmerzen 6 Monate später nach konservativer Therapie (Beckenübersicht (b) und coronare SPECT-Computertomografie-Schnittbilder des vorderen (c) und hinteren (d) Beckenrings). Beckenübersicht postoperativ (e) und 1Jahr (f) nach Plattenosteosynthese des vorderen Beckenrings beidseits mit Drahtcerclage-Verstärkungen und zementaugmentierter transsakraler Verschraubung.
 


 
 

Abb. 7. Nicht-verschobene, H-förmige Sakruminsuffizienzfrakturen (spinopelvine Dissoziation) bei 87-jährigem Patienten mit Osteoporose, langstreckigen Lendenwirbelsäulen-Degenerationen und immobilisierenden Schmerzen im Kreuzbein (coronare und sagittale Computertomografie (a, b)- und Magnetresonanz (c, d)-Schnittbilder (rote Kreise markieren die Frakturen)). Postoperative Beckenübersicht (e) und seitliches Bild der Landenwirbelsäule (f) und entsprechende 1Jahres-Kontrollbilder (g, h) nach zementaugmentierter, minimalinvasiver lumbopelvinen und transsakralen Stabilisierung bei selbständigem Patienten (i).
 


 
 

Abb. 8. Bei einem 19-jährigen Patienten konnte nach einem Skiunfall in der Beckenübersicht keine Fraktur nachgewiesen werden (a). Im Verlauf entwickelte sich aber eine Grosszehen- und Fussheberparese links. In der Computertomografie zeigte sich 1,5 Monate nach Unfall eine Sakrumfraktur links mit einem Fragment (roter Kreis), das nach vorne und nach kranial verschoben ist (b). Die Magnetresonanz-Untersuchung bestätigt die Kompression der L5-Wurzel (Stern) durch das Fragment (roter Kreis) (c). Bei jungem Patienten wurde weltweit erstmalig über einen Pararectus-Zugang durch Prof. Keel das Fragment entfernt und der Plexus lumbalis, speziell die L4- und L5-Wurzel befreit (intraoperative Sicht auf die mit einem Gummizügel angeschlungenen Beckenarterie und –vene (Arteria und Vena iliaca communis mit Abgang der Arteria iliaca interna) (d) und nach Weghalten der Gefässe Sicht auf den Nervus obturatorius und die L4 und L5-Wurzeln (Plexus lumbalis) (e)). Postoperatives Röntgenbild mit der iliosakralen Schraube bei Patientem mit unmittelbar postoperativ vollständiger Erholung des neurologischen Defizites (f). Die Technik der vorderen Befreiung des Plexus lumbalis über den Pararectus-Zugang und die ersten Fälle wurden 2020 international publiziert (g).
 


 
 

Abb. 9. Eine 21-jährige Patientin entwickelte nach Plattenosteosynthese des vorderen Beckenrings links und perkutaner iliosakraler Schraube rechts bei einer lateralen Beckenkompressionfraktur (3D-Computertomografie (a)) mit verschobenen Schambeinastfrakturen links und wenig verschobener Sakrumfraktur rechts (axiales CT des hinteren Beckenrings vor Operation (b), postoperatives Röntgenbild (c), axiales CT mit nach ventral und kaudal disloziertem Fragment (roter Kreis) (d)) eine stark schmerzhafte Reizung der L4- und L5 Wurzeln. Die Magnetresonanz-Untersuchung zeigt die Kompression der L5-Wurzel (gelber Kreis) durch das Fragment (roter Kreis) (e). Ein Monat nach Osteosynthese wird über einen Pararectus-Zugang das Fragment entfernt und der Plexus lumbalis befreit (intraoperative Sicht auf den Nervus obturatorius, die L4- und L5-Wurzeln (f) und postoperatives CT mit Nachweis der Entfernung des Fragmentes (roter Kreis) (g), was zu einer Erholung der Wurzelschmerzen führte.
 

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